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Inklusion ist Identität
Fotos: Marco Stepniak

Inklusion ist Identität

Lesedauer: ca. 2 Min. | Text: _Redaktion _RDN

Deutschlands Antwort auf Taylor Swift, unser Herbert Grönemeyer, tourt regelmäßig. So weit, so normal. Doch neben ihm auf der Bühne steht keine Tänzerschar, sondern oft nur eine Person. Die tanzt zwar auch, aber nur nach seinen Worten. Der Ruhrpottrex ist einer der wenigen Musiker, der mit einer Gebärdendolmetscherin tourt, sodass gehörlose Menschen sein Konzert besuchen können.

Auf vielen Bühnen der Republik stand auch Gebärdensprachdolmetscher David Niemann aus Recklinghausen. Er sieht solche Konzert-Übersetzungen kritisch: „Der Blickfang des Bildes ist der ‚Tanz‘, das ist vor allem für Nicht-Gehörlose spektakulär. Die ganze Emotionalität eines Liedes lässt sich durch Übersetzung nicht darstellen. So könne man auch Liedtexte lesen, das sei nicht dasselbe.“ Die Gehörlosen, die ich kenne, hören keine Musik. Raves gehen, die Vibration des Basses trägt eine Tonalität, man muss nichts hören, um mitzugehen. Herbert Grönemeyer und Taylor Swift seien, musikalisch betrachtet, aber keine Begriffe in der Community. Trauerfeiern, Kündigungs- oder Vorstellungsgespräche, politische Veranstaltungen, gerade zu den großen Wahlen oder Arztbesuche – das sind die Orte, in denen David die Kluft zwischen hörenden und tauben Menschen überbrückt. „Bevor man sich auf die großen Bühnen begibt, sollte man sich um die scheinbar so banalen Dinge kümmern.

Zugang zu politischen Diskursen zum Beispiel.“ Unverständnis steht mit unsichtbarer Tinte in Davids Gesicht. Wenn der Kanzler spricht, wird übersetzt, auf Landesebene sieht es anders aus. Es sind meist die Städte selbst, die Inklusion auf kommunaler Ebene wieder stärker in den Blick nehmen. „In Recklinghausen bin ich oft dabei.“ Von diesen Begegnungen, auch den intimen in Arztpraxen oder Gerichtssälen, erzählt David in stets aufrechter Haltung. Während die Laute durch die Luft spazieren, erzählt auch sein Gesicht. Die Augen, schalkeblau wie seine Outdoor-Jacke, verengen sich, werden groß, seine Augenbrauen schwingen in unregelmäßigen Squats, passend zum Paartanz seiner Hände. Ein Gehörloser kann tiefer zwischen die Zeilen blicken als ich, denn: „In der Gebärdensprache wird für grammatikalische Dinge vor allem die Mimik eingesetzt“, erklärt David.

Eine hochgezogene Augenbraue deutet eine Frage an, ein bestimmter Blick sagt aus, welcher Tonfall gemeint ist. „Mein Kunde muss die Gesprächsstimmung ebenso verstehen wie den Inhalt. Und eine Verbindung zwischen Sender und Empfänger, die mehr ist als nur Sprache. Sprachbarrieren betreffen eine ganze Lebensrealität. Wir sind auf einem guten Weg, ich sehe die Prozesse, ich sehe aber auch die Hindernisse“, David spricht von systemischen Hürden, aber auch dem Sensibilisierungsbedarf der Gesellschaft. „Alle lernen italienisch oder spanisch für den Urlaub. Wieso lernen nicht mehr Menschen Gebärdensprache? Eine neue sprachliche Norm täte der Inklusion gut.“

INFO i:
niemann-david.de

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